1. Das Problem
»Utopien erscheinen realisierbarer als je zuvor. Wir finden uns mit einer neuartigen, besorgniserregenden Frage konfrontiert: Wie sollen wir ihre endgültige Verwirklichung verhindern?« – Nikolai Berdjajew
Vor kurzer Zeit wurde ich mit einem kleinen moralischen Dilemma konfrontiert. Ich befand mich in einem der großen namhaften Elektronikmärkte, in der Linken einen Kopfhörer, den ich dort Probe getragen und Probe gehört hatte, und in der Rechten mein Smartphone, mit dem ich Kundenbewertungen auf Amazon nachgeschlagen hatte. Meine Kaufentscheidung hatte ich bereits gefällt – mich beschäftigte nur die Frage, ob ich die Kopfhörer hier im Elektromarkt kaufen würde oder ob ich sie via Amazon bestellen sollte.
Pro Elektromarkt: Ich habe das Ding jetzt sofort statt erst in ein paar Tagen – außerdem habe ich es hier zur Probe getragen und es wäre höchst schäbig, jetzt die Kopfhörer von einem anderen Anbieter zu beziehen. Pro Amazon: Andererseits haben die Produktbewertungen meine Kaufentscheidung mindestens ebenso sehr beeinflusst, wie die Möglichkeit, diese auszuprobieren. Außerdem war Amazon natürlich 20 Euro günstiger.
Amazon lag also klar vorne. Während ich überlegte, trat ein Mitarbeiter auf mich zu und fragte mich, ob er mir helfen könnte. Ich verneinte, bemerkte seinen Blick auf das Smartphone und fühlte mich nicht eben besser.
Die vergangenen Jahre waren für Unternehmen wie Saturn, Mediamarkt oder Best Buy eine harte Zeit. Nie hatte der Kunde mehr Macht. Statt sich auf seiner Customer Journey brav von Touchpoint zu Touchpoint zu hangeln, springt er wild hin und her – und nimmt sich von jedem Anbieter nur das, was er gerade braucht. Auswahl hier, Produkt-Information da, Testen dort und Kauf natürlich beim Preisführer. Das Geschäftsmodell vieler Anbieter wurde so ad absurdum geführt.
Es ist ein instabiles und unfaires System, in welchem Kunden und einige wenige Anbieter von der Leistung anderer Anbieter profitieren, ohne diese für ihre Leistung auch zu entlohnen. Sollte sich in Zukunft nicht eine Art »Omni-Channel-Cookie« etablieren, analog zum digitalen Affiliate- oder Referral-Marketing, wird der Einzelhandel in Zukunft ganz schön uniform aussehen. Anbieter wie Saturn und Co. werden aus finanziellen Gründen schließen – da sie aber für den Kunden einen definitiven Mehrwert geboten haben, werden die einstigen Profiteure ihre Nische füllen. Man darf sich in Zukunft also mit großer Wahrscheinlichkeit auf Amazon und eBay Stores en masse freuen.
Glücklicherweise kann man parallel dazu gerade eine andere Entwicklung beobachten: den Siegeszug der wahren Marken.