Fast alle nutzen es, fast keiner steht dazu: Seit seiner Gründung 2012 ist Tinder DAS große Ding. Für die meisten User ist die Dating-App ein gern genutztes Mittel zur kurzfristigen Suche nach einem Kopulationspartner. Ein Instrument zum Stillen fleischlicher Gelüste auf Basis oberflächlicher Kriterien: Wer gut aussieht, wird nach rechts geswiped, alle anderen nach links. So einfach! Das hätten wahrscheinlich sogar unsere Vorfahren Homo habilis vor zwei Millionen Jahren hingekriegt.
Nach dem großen Erfolg von Tinder schossen ähnliche Dating-Apps nur so aus dem Boden. Und natürlich auch Konkurrenten, die den oberflächlichen Tinder-Ansatz verteufeln, und eher auf innere Werte setzen (okcupid – stammt aber vom gleichen Mutterkonzern wie Tinder).
Oder auf den Musikgeschmack (tastebuds).
Oder auf gemeinsame Hassobjekte (Hater).
Oder sogar darauf, ob man Donald Trump feiert (Donald Daters).
Die simple Wisch-Mechanik eignet sich natürlich nicht nur für Zielpersonen, die heute Abend noch nichts vorhaben oder die ihrer Utopie von der großen Liebe mit Doppelhaushälfte, Minivan und Golden Retriever nachjagen. Inzwischen kann man sich in diversen Apps so ziemlich alles erswipen: den Traumjob bei truffls, relevante News-Meldungen mit News-Deck oder das Lieblingsrezept zum Abnehmen bei Shape Babe.
Tinders Umsatz explodiert. Warum?
Trotz vielseitiger Konkurrenz ist und bleibt unsere liebste Fleischbeschau-App ungeschlagen: Tinder ist weltweit die Nicht-Spiele-App mit dem zweithöchsten Umsatz, nur übertroffen von unserem neuen Lieblingshobby: Netflix.
Mir ist natürlich klar, dass die Macher von Tinder sich herzlich wenig dafür interessieren, ob ich eine einsame Seele bin oder wann die nächste Party in meinem Höschen steigt – es geht letztendlich immer ums Geld. Und davon fährt Tinder eine ganze Menge ein: 2018 sollen es um die 800 Millionen Dollar Umsatz gewesen sein. Da die meisten Funktionen von Tinder kostenlos genutzt werden können, habe ich mich gefragt: Wie kommt die Dating-App zu so viel Profit?
Ganz einfach: Die Gratis-Variante kann um kostenpflichtige Zusatzfunktionen aufgestockt werden. Und zwar mit Abo-Modellen wie »Tinder Plus« oder »Tinder Gold«, die inzwischen über vier Millionen zahlende Abonnenten haben. Als diese Premium-Abos vor einigen Jahren eingeführt wurden, mussten ältere Nutzer fast dreimal so viel dafür blechen als Tinders Hauptzielgruppe der Twenty-Somethings. Und zwar, weil die Vermittlung von Kontakten für ältere Nutzer »schwieriger ist«. Ahja. Zum Glück haben User in den USA dagegen geklagt und Recht bekommen. Jetzt müssen wenigstens alle Flirtwilligen gleich viel zahlen.
Aber was sind denn nun die Vorteile für zahlende Nutzer? Je nach Paket ist das unterschiedlich. Aber im Großen und Ganzen diese hier: Das eigene Profil wird bei den Objekten der Begierde höher gerankt, Alter und Entfernung kann für potenzielle Matches verborgen werden, Werbung wird ausgeblendet und man kann unbegrenzt Likes verteilen.
Moment – Werbung wird ausgeblendet? Auf Tinder? Wie wird da überhaupt Werbung ausgespielt? Und was bringt das? Also ich persönlich möchte keine Chips oder Sonnenbrillen kaufen, während ich gerade vollkonzentriert auf der Suche nach dem nächsten Betthupferl bin. Aber eigentlich ist das doch ziemlich naheliegend: Denn Tinder hat dank 50 Millionen Abonnenten weltweit eine unheimlich hohe Reichweite – 10 Millionen davon nutzen Tinder täglich. Dadurch ist die App mehr als interessant für werbetreibende Unternehmen aller Art. Um diese Reichweite als Kanal nutzen zu können, zahlen Firmen also einen ganzen Haufen Geld an den Tinder-Mutterkonzern Match Group.
Aber wie empfindet man die Werbung als User? Ich habe das im Sinne der Wissenschaft mal ausprobiert. Natürlich nur für diesen Blogartikel – privat nutze ich Tinder natürlich nicht, höhö, das wäre ja peinlich. Also: An jeder 20. Stelle im Slider sehe ich als Ottnormalnutzer eine Werbeanzeige statt einem willigen Boy/Girl in meiner Nähe – es sei denn, ich habe ein Bezahl-Abo abgeschlossen, das mich vor lechz-unterbrechenden Werbeeinblendungen bewahrt. Insgesamt also noch im Rahmen und nicht too much. Die Ausspielung könnte meiner Meinung nach deutlich schlimmer sein. Außerdem kann man die Anzeigen genau wie eine unattraktive Person einfach wegswipen und muss dafür nicht mal eine Mindestdauer abwarten oder läuft Gefahr, aus Versehen auf versteckte CTAs zu klicken, die die Website des Werbetreibenden öffnen. Das ist für den User zwar bequem, für den Werbetreibenden aber alles andere als lohnenswert. Was mich gleich zu meiner nächsten Frage bringt:
Erfolgreich werben auf Tinder – wie geht das?
Sicher sind viele Branchen oder Firmen von der Thematik her nicht geeignet, auf einer Dating-App zu werben, weil dem User einfach der Zusammenhang fehlt. Ich hatte damit gerechnet, dass die meisten Unternehmen ihre bestehenden Werbeanzeigen halt mal bei Tinder ausspielen und schauen, was passiert. Aber falsch gedacht: Einige Unternehmen geben sich sogar richtig Mühe mit ihrer Werbung auf der Dating-App!
Mit einem findigen Marketing-Team kann auch hier eine richtig erfolgreiche Kampagne entstehen. Tolle Beispiele hierfür sind zum Beispiel der Autoverleih SIXT, die sich die Zweideutigkeit des Begriffs »abschleppen« zunutze macht, oder die Lebensmittelmarke Knorr mit ihrem Viral-Video über »love at first taste«. Überraschend gut passt auch die Kampagne von Amnesty International zur Dating-App, in der es um Frauenrechte ging – ein sehr ernstes Thema, das erst auf den zweiten Blick zur verspielten Paarungszeit auf Tinder passt:
Sehr beliebt für das Marketing in der Dating-App sind auch Testimonials, die mit dem User hin und her »chatten« – sie werden oft nicht auf den ersten Blick als Werbung enttarnt und kommen eher spritzig als plump daher. Dafür werden in der Regel einfache Bots benutzt, die ihrem Match einige vorgefertigte Nachrichten und Links zur Kampagnen-Landingpage des Werbetreibenden schicken können. Die Werbung wird durch diesen Dialog aber interaktiv, macht Spaß und hilft dem Nutzer, sich mit der Marke zu identifizieren.
So ein Chat mit einem Bot ist aber nicht immer unterhaltsam und harmlos: Denn leider fallen auch heute noch eine ganze Menge Nutzer auf Fake-Profile herein und lassen sich so zu kostenpflichtigen Drittanbietern locken oder geben sensible Daten wie ihre Handynummer oder ihre Bankdaten preis. Das kommt anscheinend so oft vor, dass sogar die ARD sich der Thematik angenommen hat, um Nutzer zu warnen. Gut, dass der durchschnittliche ARD-Gucker (Alter: 60 Jahre) genau dieselbe Persona wie der durchschnittliche Tinder-Nutzer (Alter: 18 – 35 Jahre) ist …
Neue Mitarbeiter mit nur einem Wisch
Mit Tinder können Unternehmen allerdings noch mehr, als nur ihre Produkte oder Leistungen zu bewerben. Auch im Bereich Online-Recruiting kann man bei Tinder neue, unkonventionelle Wege gehen. Das probierte die Airline Eurowings im Frühjahr 2018 direkt mal aus – mit denkbar einfacher, aber strategisch durchdachter Mechanik:
Usern in München, Stuttgart und Österreich wurden im Zeitraum von April bis Juni 2018 sogenannte »Branded Profile Cards« ausgespielt – also Werbeanzeigen, die wie ein Tinder-Profil aussehen und funktionieren. Wen die Headline »Bei uns kannst du landen!« auf dem Profilbild von Eurowings ansprach, konnte per Klick das »Profil« der Airline aufrufen und erhielt dort mehr Informationen zur offenen Stelle. Wenn der Nutzer das Profil nach rechts wischte, hatte er automatisch ein »Match« mit der Airline und erhielt im Chat (versendet von einem Bot) den Link zur Eurowings Karrierewebsite. Dort fehlten nur noch einige wenige Klicks und schon war die Bewerbung verschickt.
War die Kampagne erfolgreich? Definitiv! Im zweimonatigen Kampagnenzeitraum erreichte die Airline über 600.000 User. Neben einer Engagement-Rate von 9,8 % und dem Anstieg der Karriereseiten-Besuche um fast 40 % in München und Österreich sorgte die Kampagne für ein mediales Echo, für das der finanzielle Einsatz sich mehr als lohnte. Die Bewerberzahlen verdoppelten sich und innerhalb weniger Monate wurden dank der Tinder-Kampagne bereits 2.000 neue Crewmitglieder eingestellt. On top wurde Eurowings mit der wichtigsten Auszeichnung der österreichischen Digitalwirtschaft, dem iab webAD, ausgezeichnet – zweimal Gold für »Beste Mobile Kampagne« und »Beste Native Kampagne«.
Wiedersehen mit Väterchen Facebook
Wer hätte das gedacht: Tinder spielt die Werbeanzeigen zwischen den tatsächlichen Dating-Profilen nicht selbst ein. Sie werden über das Facebook Ad Network eingespeist. Lasst euch das mal auf der Zunge zergehen – und dann fragt euch: Warum hat Facebook hier schon wieder die Finger im Spiel?
Tja, ganz einfach: Tinder ist eng mit dem Social-Media-Netzwerk verknüpft. Das macht die Nutzung der App so unkompliziert und deshalb attraktiv. Bei deiner Anmeldung verknüpfst du innerhalb von Sekunden einfach dein Dating-Profil mit deinem Facebook-Account. Dieser füttert dein Dating-Profil mit deinem Vornamen, Alter, Bildern, Gefällt-mir-Angaben sowie deinen Facebook-Freunden, die dir später als Übereinstimmung mit dem potenziellen Match angezeigt werden. Davon profitiert auch die soziale Plattform: Denn von den vier Millionen Tinder-Nutzern hat sich ein Teil sicherlich nur ein Facebook-Profil zugelegt, um schnell losswipen zu können. Inzwischen muss man sogar die eigene Handynummer verifizieren, um die Dating-App nutzen zu können – bei der Nutzung von Facebook war die Angabe der Mobilfunknummer bislang immer optional. So hat Mark Zuckerberg doch noch einen cleveren Weg gefunden, den paarungswilligen Hormonbündeln die Handynummer abzuluchsen, ohne deren Relevanz in der Verifizierungsprozedur groß zu hinterfragen. Und wer sein Dating-Profil mit noch mehr Daten füttern will, kann auch noch seinen Instagram- und Spotify-Account verknüpfen. So viel zum Thema Datenschutz!
Aber es ist ja auch nicht alles schlecht …
Es fällt leicht, Nutzer von Dating-Apps zu verurteilen, weil sie lieber auf dem Smartphone rumwischen, statt das sympathische Gegenüber in der U-Bahn mal charmant anzulächeln. Und weil sie Facebook und der Match Group ihre persönlichen Daten ohne Bedenken zum Fraß vorwerfen, wenn die Hormone mal wieder brodeln. Genauso einfach verteufeln wir die App selbst, die uns zu diesem Verhalten verführt. Aber hey, in einer Zeit, in der alles digital wird, ist das vielleicht schwer vermeidbar – und auch nicht alles an der Digitalisierung der Partnersuche ist schlecht.
Was ich damit im Speziellen meine: Tinder nutzt seine Reichweite nicht nur, um Geld zu verdienen, sondern auch zur politischen Aufklärung. In den USA war 2016 die Präsidentschaftswahl ein riesengroßes Thema. Wir Deutschen kennen die Problematik, dass ein beachtlicher Teil der jungen Bevölkerung politisch nicht engagiert oder zumindest nicht informiert ist. So auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Für viele Wähler war die Entscheidung zwischen Hilary Clinton und Donald Trump ein Votum zwischen Pest und Cholera oder zwischen Wer-ist-die-Alte und Ist-das-der-Typ-aus-Kevin-allein-in-New-York.
Um etwas mehr Klarheit zu schaffen, rollte die Dating-App ihre Version des Wahl-o-mat aus: Unter dem Namen »Swipe the Vote« wurden den Usern statt Single-Profilen politische Angelegenheiten gezeigt. Mit der gelernten Wisch-Mechanik konnten die Nutzer dem Thema zustimmen oder es ablehnen. Darauf folgte anschließend ein »Match« mit dem passenden Präsidentschafts-Kandidaten – sozusagen als Anhaltspunkt für die tatsächliche Entscheidung in der Wahlkabine.
Daran kann ich nun wirklich nichts Negatives finden. Denn im heutigen Zeitgeschehen, wo wirklich vieles schief läuft und viele hohe Positionen von Personen jenseits der sechzig oder gar siebzig Jahre besetzt sind, die wohl kaum die Interessen der Jugend vertreten (nicht nur im Bereich moderner Medien), muss so viel Aufklärung wie möglich passieren. Und zwar vor allem auf oder von Kanälen, in denen die junge Bevölkerung auch wirklich vertreten ist. Denn wer schaut schon noch die Öffentlich-Rechtlichen, wenn er Netflix haben kann …
Wenn auch du lieber wischst statt klickst oder den Wahl-o-mat einfach blöd findest, könntest du zur nächsten Bundestagswahl ja mal den Wahlswiper ausprobieren. Hauptsache, du informierst dich und gehst beim nächsten Mal auch wirklich wählen!